Interview Inger/Shechter

Von Tanzschritten, Körpersprache(n) und dem Leben aus dem Koffer

Was die Einstudierung eines Tanzstücks mit einer Doktorarbeit zu tun hat: Ein Interview mit Javier Rodríguez Cobos und Chien-Ming Chang über ihre Arbeit als choreografische Assistenten
Von Selina Beghetto
Javier Rodríguez Cobos stammt aus Spanien. Er tanzte zuletzt vierzehn Jahre beim Ballett Basel. Seit 2022 ist er freischaffender Choreograf, u.a. auch gemeinsam mit Frank Fannar Pedersen. Ausserdem arbeitet er als choreografischer Assistent von Johan Inger, dessen Stücke er mit verschiedenen Compagnien weltweit einstudiert.
Chien-Ming Chang stammt aus Taiwan. Er ist seit 2009 Teil der Hofesh Shechter Company – zuerst als Tänzer und später als Ballettmeister und Probenleiter der Junior Company. Parallel ist er für die Einstudierung von Hofesh Shechters Choreografien verantwortlich und reist dafür um die ganze Welt.
Es ist ein spätsommerlicher Morgen, die Sonne wärmt die Gesichter der Menschen, die kurz nach Neun vor dem Kaffeehaus in der Linsenbühlstrasse sitzen. Ich bin mit Javier Rodríguez Cobos und Chien-Ming Chang verabredet, zwei Künstlern, die diesen Herbst mit der Tanzkompanie St.Gallen arbeiten. Mich nimmt wunder, was sie in die Ostschweiz bringt und wie ihr Arbeitsalltag hier aussieht. Als die beiden das Kaffeehaus betreten, scheint es, als würden sie die Sonne von draussen mit hineinbringen. Javiers Strahlen fällt sofort auf. Hinter ihm steht Ming, der sich sofort entschuldigt, etwas spät dran zu sein. Schweizer Pünktlichkeit. Wir lachen und das Eis ist gebrochen. Nachdem sich die beiden einen Kaffee geholt haben, setzen wir uns an einen freien Tisch.
Selina: Könnt ihr als erstes etwas über euch erzählen? Und ist es in Ordnung, wenn ich das Gespräch aufnehme?
Die beiden nicken und wir beginnen. Die Zeit ist knapp, die Arbeit ruft. Um 10 Uhr müssen die beiden wieder los Richtung Probebühne. Ich drücke die Sprachmemo-Funktion meines Handys und beginne.

Selina: (lachend) Also, nochmals, könnt ihr etwas über euch erzählen?

Ming: Soll ich auch meinen Namen sagen?

Wieder lachen wir. An den würde ich mich auch ohne Aufnahme erinnern, sage ich und merke, wie ich mich langsam entspanne. Die beiden Menschen am Tisch geben mir das Gefühl, genau am richtigen Ort zu sein. Ming und Javier erzählen von ihrem Werdegang und ich davon, warum ich sie zu diesem Gespräch einladen wollte. Beide sind hier, um die zwei Choreografien von Hofesh Shechter und Johan Inger, die zusammen den Tanzabend Inger/Shechter bilden, mit der Tanzkompanie einzustudieren.

Selina: Wieso sind Hofesh Shechter und Johan Inger nicht selbst in St.Gallen?

Ming: (lachend) Hofesh ist sehr beschäftigt.

Javier: Johan auch.

Hofesh Shechter und Johan Inger sind international gefeierte Choreografen und arbeiten mit unterschiedlichen Kompanien an neuen Produktionen. Bestehende Choreografien – wie Contemporary Dance 2.0. von Hofesh Shechter und Rain Dogs von Johan Inger, die ab November in der Lokremise zu erleben sind – werden von choreografischen Assistenten wie Ming und Javier an die jeweilige Tanzkompanie weitervermittelt.

Selina: Wie geht das, eine Choreografie einzustudieren, die nicht die eigene ist?

Javier: (lachend) Es ist fast ein bisschen so, als würdest du eine Doktorarbeit über dieses Stück schreiben. Im Ernst, es ist ganz wichtig, jedes kleine Detail davon zu kennen. Ich muss auf jede Frage eine Antwort geben können. Aber grundsätzlich geht es darum, den Tänzer:innen die Idee und das Konzept des Choreografen zu vermitteln.

Selina: Schritte einstudieren ist das eine, aber wie überträgt man das Gefühl einer Choreografie und die Körpersprache eines anderen Künstlers, in eurem Fall Hofesh und Johan?

Ming: Ich habe jahrelang selbst als Tänzer in der Hofesh Shechter Company gearbeitet und kenne dadurch Hofeshs Stil. Er ist für mich – im übertragenen Sinne – der Architekt oder Designer und ich verstehe mich als Bauleiter, der seine künstlerische Vision mit Tänzer:innen auf der ganzen Welt umsetzen darf.

Javier: Für mich ist es sehr wichtig, dass ich selbst Teil von Rain Dogs war. Ich könnte keine Arbeit eines Choreografen vermitteln, den ich nicht persönlich kenne. Es ist zwingend notwendig, zu wissen, was Johan beim Kreieren dachte und auch den direkten Austausch mit ihm zu haben. Ich verstehe mich wirklich als Übermittler von Johans künstlerischer Handschrift und dafür muss ich jeden einzelnen Bestandteil davon kennen.

Selina: War für euch immer klar, dass ihr mal Stücke von berühmten Choreografen mit internationalen Kompanien einstudieren möchtet?

Javier: (lachend) Nein, das war vielmehr ein natürlicher Prozess. Ich habe in mehreren Stücken von Johan Inger als Tänzer mitgewirkt, viele davon waren Neukreationen und irgendwann hat er mich gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, sein choreografischer Assistent zu sein. Ich glaube, wir verstehen uns einfach sehr gut, ich mag seine Arbeit und kann mich damit identifizieren – was wiederum für meine Tätigkeit als choreografischer Assistent unglaublich wichtig ist. Ich kann nichts weitergeben, wohinter ich nicht stehen kann.

Ming: Nachdem ich über viele Jahre selbst Tänzer der Hofesh Shechter Company war, habe ich irgendwann angefangen, als Ballettmeister und Probenleiter von Hofeshs Junior Company zu arbeiten. Dort habe ich gelernt, choreografisches Material weiterzugeben und Hofeshs Stil zu vermitteln. So hat sich das entwickelt. Der Flow hat mich also hierhergebracht. (lacht)
Selina: Wie viel Spielraum gibt es für die eigene Interpretation der Tänzer:innen?

Ming: Ich lasse ihnen viel Freiheit, mit der sie spielen können. Gleichzeitig ist es wichtig, Linien zu zeichnen, die den Tänzer:innen als Orientierung dienen. Dazwischen ist vieles möglich, solange sie sich dem Stil des Choreografen bewusst sind und das Gleichgewicht zwischen vorgegebener Struktur und persönlichem Ausdruck halten können. Manchmal geht es nicht darum, was sie tun, sondern wie sie es tun. Ich möchte ihre Intension sehen, das Gefühl und die Energie spüren, die sie in ihre Bewegung stecken. Danach suche ich und dahin versuche ich sie zu bringen.

Javier: Wir choreografische Assistenten sind ein bisschen wie ein DJ, der die Lautstärke aufdreht und dann merkt, dass es etwas zu laut wird. Genauso verhält es sich mit der Choreografie, die ich mit den Tänzer:innen einstudiere. Ich lasse sie machen und muss aber auch immer wieder an ihrer Lautstärke herumschrauben. Am Schluss geht es darum, sich gemeinsam einzupendeln. Und natürlich ist es jedes Mal anders: Man kann ein Stück, das live passiert, nicht exakt reproduzieren, sich jedoch am Original orientieren.

Selina: Wenn ihr an einen neuen Ort kommt, wie fängt ihr an?

Javier: (lachend) Es ist die klassische Situation von: man hat einen Plan und kaum betritt man das Tanzstudio, kann man ihn gleich wieder verwerfen. Der Grund dafür ist ganz simpel: Wir arbeiten mit Menschen und Menschen funktionieren nicht immer auf Knopfdruck. Ich kann noch so eine gute Werkzeugkiste mitbringen, trotzdem muss ich zuerst wissen, welche Werkzeuge ich wann und für wen einsetzen kann. Es braucht also zu Beginn vor allem ein Gespür für die Kompanie: wie ticken die Tänzer:innen und was benötigen sie, um etwas Neues zu lernen?

Ming: Ich brauche immer erst ein paar Tage, um alle kennenzulernen und zu wissen, wie ich am besten mit dieser Tanzkompanie arbeiten kann. Tänzer:innen haben unterschiedliche Weisen, sich Dinge zu merken. Für manche funktionieren verbale Anweisungen, andere müssen die Bewegung über ihren Körper aufnehmen, um sie im eigenen System abspeichern zu können. Somit ist jede Einstudierung an einem neuen Ort ganz anders. Wichtig ist natürlich, dass die Choreografie am Ende meines Aufenthalts sitzt.

Selina: Das stelle ich mir sehr stressig vor.

Ming: Das ist es auch. Ich spüre diesen Druck auf jeden Fall. Meine Arbeit muss in einer bestimmten Zeitspanne abgeschlossen sein. Oftmals stehen mir nur wenige Wochen zur Verfügung. Da werde ich manchmal schon etwas kribbelig.

Selina: Was sind die schönen Seiten an eurer Arbeit?

Ming: Das wunderbare an meinem Job ist, dass ich so vielen Menschen begegnen darf. Bislang hatte ich das Glück, mit grossartigen Tänzer:innen zusammenarbeiten zu können. Die Energie, die von der Arbeit mit diesen Menschen kommt, lädt meine eigenen Batterien wieder auf und lässt mich weitermachen. Nicht selten werde ich an meine eigene Zeit als Tänzer erinnert, wie es war, als ich selbst noch Teil einer Kompanie war. Dann realisiere ich, wie die Zeit vergeht und wie alt ich geworden bin (lacht).

Javier: (lachend) Auf jeden Fall, wir gehören schon zu einer anderen Generation. Ich bin so dankbar, dass ich mich in meiner Arbeit von dieser jungen Energie der Tänzer:innen umgeben lassen kann. Das macht etwas mit mir. Und natürlich sind es die Begegnungen, die Ming bereits erwähnt hat, die diesen Job besonders machen, genauso wie das Reisen und das Gefühl, etwas vermitteln zu dürfen.

Selina: Gibt es eine Kehrseite der Medaille?

Javier: Natürlich, die gibt es immer. Die ersten Tage in einer neuen Stadt sind immer aufregend, doch nach ein paar Wochen schleicht sich auch das Heimweh in den Alltag. Man beginnt, das eigene Zuhause und die Menschen zu vermissen. Unser Job kann sehr einsam sein.

Ming: Absolut, das empfinde ich auch so. Und wie gesagt, der zeitliche Druck ist manchmal nicht zu unterschätzen. Ich möchte ja auch Hofeshs Arbeit gerecht werden. Er setzt das Vertrauen in mich, seine künstlerische Handschrift weiterzugeben. Diese Brücke zu sein, erfordert manchmal einiges an Flexibilität und Belastbarkeit.

Es ist kurz nach 10 Uhr und wir sind noch mitten im Gespräch, doch auf den Probebühnen warten die Tänzer:innen der Tanzkompanie St.Gallen. Wir packen also zusammen und treten wieder hinaus in die Sonne. Zurück bleibt das Gefühl der Dankbarkeit, dass ich für eine halbe Stunde ins Universum der beiden choreografischen Assistenten eintauchen durfte.