Interview mit Carlo Goldstein
Musikalische Trugbilder und gewalttätiges Licht. Dirigent Carlo Goldstein im Interview mit Dramaturgin Barbara Tacchini über Verdis Macbeth.

Dirigent Carlo Goldstein
Barbara Tacchini: Verdis Macbeth, zeitloses Psycho-Drama der negativen Manifestation, war für den Komponisten ein künstlerisches Experimentierfeld, das spannende Fragen aufwirft. Gibt es für dich eine Schlüsselstelle in der Oper Macbeth?
Carlo Goldstein: Es gibt eine Szene, – ich weiss nicht, ob es meine Lieblingsstelle ist –, aber es ist ein entscheidender dramatischer und musikalischer Moment: die «Gran scena delle apparizioni» im 3. Akt. Zu Beginn der Oper ist die Hauptfigur von Macbeth musikalisch gut in der Realität verankert. Aber nach der ersten Begegnung mit den Hexen spürt er die Versuchung des Unwirklichen. Allmählich sinkt er in eine Unterwelt des Wahnsinns und des Kontrollverlusts hinab, was ihn dazu bringt, sich erneut an die Hexen zu wenden: Er will Bestätigung. Wenn die Hexen nun Wesen aus anderen Welten erscheinen lassen, Kinder und Könige, mischt sich die Musik aus dem Orchestergraben mit Klängen aus dem Off, von ausserhalb der Bühne. Die übernatürliche und die reale Welt verschmelzen.
Macbeth ist nicht mehr in der Lage, den Unterschied dazwischen zu verstehen. Er verliert seinen Verstand. Macbeth ist Krieger. Er ist des schlimmsten Verbrechens schuldig. Verdi aber stellt ihn als schwache Persönlichkeit dar. Für mich ist diese Szene zentral, nicht nur, weil sie musikalisch wichtig ist. In unserer heutigen Welt gibt es so viele virtuelle Versuchungen, denen die Menschen erliegen, wenn die Realität zu hart wird.
BT: Beginnt mit Macbeth Verdis Beschäftigung mit dem Übernatürlichen?
CG: Metaphysische Elemente sind parallel zu Macbeth und später in vielen Partituren von Verdi vorhanden, wenn auch nicht immer so konkret artikuliert wie die Hexen in Macbeth. Attila (1846) hat Vorahnungen. Und ich denke da z.B. an die Frauenfiguren Azucena in Il Trovatore, an Ulrica in Ballo in Maschera, die beide mit höheren oder niedrigeren Sphären in Kontakt stehen, welche jenseits der Wahrnehmung aller anderen liegen.
BT: Nicht nur der Umgang mit dem Übernatürlichen nimmt in Macbeth seinen kreativen Ursprung, auch viele andere dramatische und musikalische Dinge tauchen auf, um dann in Verdis Werk immer wieder präsent zu sein?
CG: Was Verdis experimentelle Kreativität angeht, so ist Macbeth ein Pool davon. Beispiellos suchte Verdi nach neuen Effekten, neuen Farben, nach neuer Dynamik. Was ihn dabei antrieb? Verdi war ein absoluter Theaterkomponist. Immer ging es ihm darum, den Inhalt der dramatischen Momente auf die affektivste und ausdrucksstärkste Weise zu erfassen und darzustellen.
Am ersten Probentag haben wir den Text durchgelesen, und obwohl ich das Libretto Wort für Wort kenne, war es für mich eine sehr gute Übung, nur den Text zu lesen. Ich las also einfach die Zeilen im Wissen, welche Verdi kompositorisch unterstrichen hat und welche nur eine Überleitung sind, ich wusste, worauf er seine Aufmerksamkeit richtete und was zweitrangig wurde, was in der hohen und was in der tiefen Lage ist, was in Dur und was in Moll. Und ich bewunderte Verdi immer mehr. Dafür, wie er immer bestrebt ist, den dramatischen Inhalt so klar und wirkungsvoll wie möglich zu gestalten.
Zum Beispiel gibt es im ersten Akt den Moment, in sich der Gedanke an einen Mord in Macbeths Hirn festzusetzen beginnt. Er sieht vor sich, wie das Messer mit seiner «Klinge eine blutige Spur zieht», um diesen Gedanken gleich darauf mit den Worten wegzuwischen: «Aber noch nichts ist wirklich. Meine Gedanken zeigen mir ein Trugbild.» In dem Vers, in dem Macbeth über das Messer spricht, sind die Worte plötzlich sehr schwer, der Text wird glasklar. Verdi beginnt in einer Moll-Tonart. Und dann, mit der Erwähnung des Bluts, wechselt er zu Dur – als würde Macbeth plötzlich eine Lösung sehen: Reflexion von Licht im Messer, im Blut. Dann, wenn er das «Trugbild» wegwischt, wird die Musik plötzlich viel gesprächiger und schneller.
BT: Auch die Arbeit mit den Stimmen ist sehr experimentell.
CG: Ja. Zum ersten Mal schreibt Verdi Anweisungen an die Sänger in die Noten, z.B. «con voce cupa» (dunkel), «voce muta» (gedämpft) oder sogar «senza voce». Was bedeutet das? Da schreibt er genaue Noten, genaue Tonhöhen, aber das «Ohne Stimme?» Bestimmt hatte der Komponist hier spezielle Effekte im Sinn. Nach diesen müssen wir suchen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Antwort habe, aber ich habe die Frage, und das ist schon etwas.
BT: Verdi schrieb in einem Brief, dass die Stimme der Lady Macbeth «etwas Teuflisches» haben sollte.
CG: Die Stimme von Lady Macbeth braucht schon in sich selbst eine tragische Qualität. Die Sängerin muss die sogenannte Bruststimme beherrschen. Verdi arbeitet mit einem sehr gewagten Einsatz der Register. Lady Macbeth singt die meiste Zeit sehr tief, in entscheidenden Momenten aber auch sehr, sehr hoch. Durch diesen Kontrast wird ihr innerer Kampf hörbar. Es gibt in Macbeth theatralische Momente, in denen die Stimme nur ein Werkzeug ist. In diesen Momenten möchte man nicht schön sein, sondern effektiv, und effektiv zu sein ist nicht immer schön.
Carlo Goldstein: Es gibt eine Szene, – ich weiss nicht, ob es meine Lieblingsstelle ist –, aber es ist ein entscheidender dramatischer und musikalischer Moment: die «Gran scena delle apparizioni» im 3. Akt. Zu Beginn der Oper ist die Hauptfigur von Macbeth musikalisch gut in der Realität verankert. Aber nach der ersten Begegnung mit den Hexen spürt er die Versuchung des Unwirklichen. Allmählich sinkt er in eine Unterwelt des Wahnsinns und des Kontrollverlusts hinab, was ihn dazu bringt, sich erneut an die Hexen zu wenden: Er will Bestätigung. Wenn die Hexen nun Wesen aus anderen Welten erscheinen lassen, Kinder und Könige, mischt sich die Musik aus dem Orchestergraben mit Klängen aus dem Off, von ausserhalb der Bühne. Die übernatürliche und die reale Welt verschmelzen.
Macbeth ist nicht mehr in der Lage, den Unterschied dazwischen zu verstehen. Er verliert seinen Verstand. Macbeth ist Krieger. Er ist des schlimmsten Verbrechens schuldig. Verdi aber stellt ihn als schwache Persönlichkeit dar. Für mich ist diese Szene zentral, nicht nur, weil sie musikalisch wichtig ist. In unserer heutigen Welt gibt es so viele virtuelle Versuchungen, denen die Menschen erliegen, wenn die Realität zu hart wird.
BT: Beginnt mit Macbeth Verdis Beschäftigung mit dem Übernatürlichen?
CG: Metaphysische Elemente sind parallel zu Macbeth und später in vielen Partituren von Verdi vorhanden, wenn auch nicht immer so konkret artikuliert wie die Hexen in Macbeth. Attila (1846) hat Vorahnungen. Und ich denke da z.B. an die Frauenfiguren Azucena in Il Trovatore, an Ulrica in Ballo in Maschera, die beide mit höheren oder niedrigeren Sphären in Kontakt stehen, welche jenseits der Wahrnehmung aller anderen liegen.
BT: Nicht nur der Umgang mit dem Übernatürlichen nimmt in Macbeth seinen kreativen Ursprung, auch viele andere dramatische und musikalische Dinge tauchen auf, um dann in Verdis Werk immer wieder präsent zu sein?
CG: Was Verdis experimentelle Kreativität angeht, so ist Macbeth ein Pool davon. Beispiellos suchte Verdi nach neuen Effekten, neuen Farben, nach neuer Dynamik. Was ihn dabei antrieb? Verdi war ein absoluter Theaterkomponist. Immer ging es ihm darum, den Inhalt der dramatischen Momente auf die affektivste und ausdrucksstärkste Weise zu erfassen und darzustellen.
Am ersten Probentag haben wir den Text durchgelesen, und obwohl ich das Libretto Wort für Wort kenne, war es für mich eine sehr gute Übung, nur den Text zu lesen. Ich las also einfach die Zeilen im Wissen, welche Verdi kompositorisch unterstrichen hat und welche nur eine Überleitung sind, ich wusste, worauf er seine Aufmerksamkeit richtete und was zweitrangig wurde, was in der hohen und was in der tiefen Lage ist, was in Dur und was in Moll. Und ich bewunderte Verdi immer mehr. Dafür, wie er immer bestrebt ist, den dramatischen Inhalt so klar und wirkungsvoll wie möglich zu gestalten.
Zum Beispiel gibt es im ersten Akt den Moment, in sich der Gedanke an einen Mord in Macbeths Hirn festzusetzen beginnt. Er sieht vor sich, wie das Messer mit seiner «Klinge eine blutige Spur zieht», um diesen Gedanken gleich darauf mit den Worten wegzuwischen: «Aber noch nichts ist wirklich. Meine Gedanken zeigen mir ein Trugbild.» In dem Vers, in dem Macbeth über das Messer spricht, sind die Worte plötzlich sehr schwer, der Text wird glasklar. Verdi beginnt in einer Moll-Tonart. Und dann, mit der Erwähnung des Bluts, wechselt er zu Dur – als würde Macbeth plötzlich eine Lösung sehen: Reflexion von Licht im Messer, im Blut. Dann, wenn er das «Trugbild» wegwischt, wird die Musik plötzlich viel gesprächiger und schneller.
BT: Auch die Arbeit mit den Stimmen ist sehr experimentell.
CG: Ja. Zum ersten Mal schreibt Verdi Anweisungen an die Sänger in die Noten, z.B. «con voce cupa» (dunkel), «voce muta» (gedämpft) oder sogar «senza voce». Was bedeutet das? Da schreibt er genaue Noten, genaue Tonhöhen, aber das «Ohne Stimme?» Bestimmt hatte der Komponist hier spezielle Effekte im Sinn. Nach diesen müssen wir suchen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Antwort habe, aber ich habe die Frage, und das ist schon etwas.
BT: Verdi schrieb in einem Brief, dass die Stimme der Lady Macbeth «etwas Teuflisches» haben sollte.
CG: Die Stimme von Lady Macbeth braucht schon in sich selbst eine tragische Qualität. Die Sängerin muss die sogenannte Bruststimme beherrschen. Verdi arbeitet mit einem sehr gewagten Einsatz der Register. Lady Macbeth singt die meiste Zeit sehr tief, in entscheidenden Momenten aber auch sehr, sehr hoch. Durch diesen Kontrast wird ihr innerer Kampf hörbar. Es gibt in Macbeth theatralische Momente, in denen die Stimme nur ein Werkzeug ist. In diesen Momenten möchte man nicht schön sein, sondern effektiv, und effektiv zu sein ist nicht immer schön.
BT: Gibt es vergleichbare Moment auch in der Orchestrierung?
CG: Auch hier gibt es viele offene Fragen. So schreibt Verdi bis zu sechsfaches «pianissimo» in die Partitur, pppppp, zum Ende des Chores «Patria oppressa». In welcher Beziehung steht dies zum normalen Pianissimo? Gibt es eine Grenze für Pianissimo?
Oder betrachten wir das gesamte emotionsgeladene Duett Lady und Macbeth im ersten Akt nach dem Mord an König Duncan, das über zwölf Minuten lang ist: Für die Streicher sind für das gesamte Stück Dämpfer vorgeschrieben. Verdi suggeriert damit einen Charakter, eine Phrasierung, ein Gefühl. Und das können und müssen wir als Interpretierende aufspüren. Wir spielen das in St.Gallen mit Dämpfern. Aber ich muss es für jeden Raum neu prüfen.
Verdis Orchestrierung ist noch immer unterschätzt. Das liegt natürlich daran, dass er vor allem in den frühen Jahren aus kommerziellen Gründen in einem erstaunlichen Tempo und oft ziemlich routinemässig orchestriert hat. Doch es gibt überall meisterhafte Stellen. In Macbeth möchte ich die Schlafwandelarie der Lady hervorheben. Sie basiert auf einer Orchesterbegleitung, die ein Ostinato ist: Die Formel, die er wählt, enthält in sehr wenigen Noten alles. Es ist eine aufsteigende Linie mit einem Akzent an einer Stelle, an der man ihn nicht erwartet. Die Begleitung dreht sich immer um sich selbst, als würde sie nie irgendwohin gehen, mit einigen Lichtern hie und da. Die Lady ist in ihrem Albtraum gefangen. Dies ist Einfachheit in ihrer höchsten Form. Dazu kommt die sehr tiefe Stimmlage des Gesangs, die am Ende unerwartet extrem hoch wird, und die beiden Nebenstimmen, der Arzt und die Kammerfrau. Ihre Kommentare geben Raum. Mir passiert es oft, wenn ich eine fantastische Bild-Komposition sehe, dass meine Aufmerksamkeit auf ein Detail gelenkt wird und ich denke: «Wenn nur dieses kleine Detail fehlen würde, wie viel weniger wäre dann die gesamte Komposition?» Genauso ist es bei Verdi: Manchmal braucht es nur eine Kleinigkeit, und das Ganze wird so viel grösser, so viel tiefer.
BT: Macbeth ist eine Oper, die immer im Dunkeln spielt. Wie hat Verdi mit seiner sogenannten «tinta musicale» darauf reagiert?
CG: Es ist eine ganz besondere «tinta», die sich durch diese Partitur zieht. Natürlich eine vielschichtige dunkle Farbe. Wenn ich ein Beispiel aus der Malerei nennen sollte, das dem entspricht, dann ist es das Licht von Caravaggio, das Spiel mit Hell und Dunkel, das für Dramatik in den Bildern sorgt. Das ist eine ästhetische Sprache, die Verdi vertraut war. Caravaggios berühmtes Dunkel hat eine grosse Tiefe. Plötzlich, irgendwie gewalttätig und aufschlussreich kommt das Licht. Genau wie die Lichtmomente in der Partitur von Verdi.
BT: Wie haben die Menschen zu Verdis Zeiten auf all die Momente reagiert, in denen er mit den Konventionen brach?
CG: Das ist eine interessante Frage. Vor allem das aristokratische Publikum, das sehr gebildet war, hat die Kompositionen bestimmt als gewagt, neu und unerwartet empfunden. Andererseits dürfen wir nicht vergessen, dass die Oper zu Verdis Zeiten eine äusserst beliebte Form der Unterhaltung war, nicht nur der Kunst. Vielleicht hat Verdi zu seiner Zeit einige konservative Erwartungen empfindlich verblüfft, aber er war immer in der Lage, sowohl mit Intellektuellen zu sprechen, die sich in der Theatergeschichte auskannten, als auch mit Menschen, die noch nie ein Buch, geschweige denn Shakespeare, gelesen hatten. Verdi verfügt wie kaum ein anderer Grosser der Musikgeschichte über eine Universalität der Kommunikation, die auch heute noch Bestand hat!
Dazu passt, dass Verdis Theater ein soziales Theater ist, und zwar im Sinne eines Theaters der Beziehungen. Die Handlung entwickelt sich immer durch die Beziehungen der Charaktere. Der einzelne Moment ist der Gefühlsausbruch, der Schrei, der Kommentar zu dem, was bereits geschehen ist, oder was unweigerlich geschehen wird. Aber was geschieht, wird von den Beziehungen bestimmt. Beziehungen zwischen den Generationen; Beziehungen zwischen Familienmitgliedern; Beziehungen zwischen den Geschlechtern; Beziehungen zwischen Institutionen, der Kirche, der Krone und den armen Leuten.
BT: Wie bereits in Shakespeares Drama ist es nicht nur ein historisches Ereignis, das Verdi beschreibt.
CG: Nein, darum geht es nicht. Es ist eine Beschreibung menschlicher Schwächen, die universell sind. Und die Schwächen werden zurückkommen, auch wenn Macbeth und die Lady tot sind. Tatsächlich ergibt sich in Verdis Perspektive eine Akzeptanz der Schwächen und des Bösen auf Augenhöhe. Er kann nicht anders, als die Menschheit zu lieben, sie mit grossem Mitgefühl zu beschreiben. Und wir haben die Möglichkeit – nicht nur in Macbeth –, die Perspektiven aller Charaktere zu verstehen; selbst derer, die Böses tun, selbst derer, mit denen wir kein Mitgefühl haben können. Aber wir haben die Möglichkeit, in all diesen Charakteren irgendwie das Menschliche zu erkennen in einer sehr universellen Gegenwart. Das ist der Kern dieses sozialen Theaters, und das ist auch einer der Gründe, warum es auch heute noch so wirkungsvoll ist.
CG: Auch hier gibt es viele offene Fragen. So schreibt Verdi bis zu sechsfaches «pianissimo» in die Partitur, pppppp, zum Ende des Chores «Patria oppressa». In welcher Beziehung steht dies zum normalen Pianissimo? Gibt es eine Grenze für Pianissimo?
Oder betrachten wir das gesamte emotionsgeladene Duett Lady und Macbeth im ersten Akt nach dem Mord an König Duncan, das über zwölf Minuten lang ist: Für die Streicher sind für das gesamte Stück Dämpfer vorgeschrieben. Verdi suggeriert damit einen Charakter, eine Phrasierung, ein Gefühl. Und das können und müssen wir als Interpretierende aufspüren. Wir spielen das in St.Gallen mit Dämpfern. Aber ich muss es für jeden Raum neu prüfen.
Verdis Orchestrierung ist noch immer unterschätzt. Das liegt natürlich daran, dass er vor allem in den frühen Jahren aus kommerziellen Gründen in einem erstaunlichen Tempo und oft ziemlich routinemässig orchestriert hat. Doch es gibt überall meisterhafte Stellen. In Macbeth möchte ich die Schlafwandelarie der Lady hervorheben. Sie basiert auf einer Orchesterbegleitung, die ein Ostinato ist: Die Formel, die er wählt, enthält in sehr wenigen Noten alles. Es ist eine aufsteigende Linie mit einem Akzent an einer Stelle, an der man ihn nicht erwartet. Die Begleitung dreht sich immer um sich selbst, als würde sie nie irgendwohin gehen, mit einigen Lichtern hie und da. Die Lady ist in ihrem Albtraum gefangen. Dies ist Einfachheit in ihrer höchsten Form. Dazu kommt die sehr tiefe Stimmlage des Gesangs, die am Ende unerwartet extrem hoch wird, und die beiden Nebenstimmen, der Arzt und die Kammerfrau. Ihre Kommentare geben Raum. Mir passiert es oft, wenn ich eine fantastische Bild-Komposition sehe, dass meine Aufmerksamkeit auf ein Detail gelenkt wird und ich denke: «Wenn nur dieses kleine Detail fehlen würde, wie viel weniger wäre dann die gesamte Komposition?» Genauso ist es bei Verdi: Manchmal braucht es nur eine Kleinigkeit, und das Ganze wird so viel grösser, so viel tiefer.
BT: Macbeth ist eine Oper, die immer im Dunkeln spielt. Wie hat Verdi mit seiner sogenannten «tinta musicale» darauf reagiert?
CG: Es ist eine ganz besondere «tinta», die sich durch diese Partitur zieht. Natürlich eine vielschichtige dunkle Farbe. Wenn ich ein Beispiel aus der Malerei nennen sollte, das dem entspricht, dann ist es das Licht von Caravaggio, das Spiel mit Hell und Dunkel, das für Dramatik in den Bildern sorgt. Das ist eine ästhetische Sprache, die Verdi vertraut war. Caravaggios berühmtes Dunkel hat eine grosse Tiefe. Plötzlich, irgendwie gewalttätig und aufschlussreich kommt das Licht. Genau wie die Lichtmomente in der Partitur von Verdi.
BT: Wie haben die Menschen zu Verdis Zeiten auf all die Momente reagiert, in denen er mit den Konventionen brach?
CG: Das ist eine interessante Frage. Vor allem das aristokratische Publikum, das sehr gebildet war, hat die Kompositionen bestimmt als gewagt, neu und unerwartet empfunden. Andererseits dürfen wir nicht vergessen, dass die Oper zu Verdis Zeiten eine äusserst beliebte Form der Unterhaltung war, nicht nur der Kunst. Vielleicht hat Verdi zu seiner Zeit einige konservative Erwartungen empfindlich verblüfft, aber er war immer in der Lage, sowohl mit Intellektuellen zu sprechen, die sich in der Theatergeschichte auskannten, als auch mit Menschen, die noch nie ein Buch, geschweige denn Shakespeare, gelesen hatten. Verdi verfügt wie kaum ein anderer Grosser der Musikgeschichte über eine Universalität der Kommunikation, die auch heute noch Bestand hat!
Dazu passt, dass Verdis Theater ein soziales Theater ist, und zwar im Sinne eines Theaters der Beziehungen. Die Handlung entwickelt sich immer durch die Beziehungen der Charaktere. Der einzelne Moment ist der Gefühlsausbruch, der Schrei, der Kommentar zu dem, was bereits geschehen ist, oder was unweigerlich geschehen wird. Aber was geschieht, wird von den Beziehungen bestimmt. Beziehungen zwischen den Generationen; Beziehungen zwischen Familienmitgliedern; Beziehungen zwischen den Geschlechtern; Beziehungen zwischen Institutionen, der Kirche, der Krone und den armen Leuten.
BT: Wie bereits in Shakespeares Drama ist es nicht nur ein historisches Ereignis, das Verdi beschreibt.
CG: Nein, darum geht es nicht. Es ist eine Beschreibung menschlicher Schwächen, die universell sind. Und die Schwächen werden zurückkommen, auch wenn Macbeth und die Lady tot sind. Tatsächlich ergibt sich in Verdis Perspektive eine Akzeptanz der Schwächen und des Bösen auf Augenhöhe. Er kann nicht anders, als die Menschheit zu lieben, sie mit grossem Mitgefühl zu beschreiben. Und wir haben die Möglichkeit – nicht nur in Macbeth –, die Perspektiven aller Charaktere zu verstehen; selbst derer, die Böses tun, selbst derer, mit denen wir kein Mitgefühl haben können. Aber wir haben die Möglichkeit, in all diesen Charakteren irgendwie das Menschliche zu erkennen in einer sehr universellen Gegenwart. Das ist der Kern dieses sozialen Theaters, und das ist auch einer der Gründe, warum es auch heute noch so wirkungsvoll ist.