Ein amerikanischer Mythos

Als Washington Irving Sleepy Hollow schrieb, waren die USA gerade erst eine Nation geworden. Die Geschichte wurde zu einer Gründungslegende des neuen Landes und ist es bis heute geblieben. Sie hatte sogar die Kraft, die Realität der Landkarten zu verändern.
Es gibt nur wenige Orte auf der Welt, die ihre Existenz der Literatur verdanken. In der Schweiz trifft das auf die Talschaft Heimisbach im Emmental zu, die eigentlich Dürrgraben hiess, 1968 aber nach dem Roman von Simon Gfeller umbenannt wurde. Auch Sleepy Hollow ist so ein Ort. Das Dorf liegt am östlichen Ufer des Hudson River, knapp 50 Kilometer nördlich von Manhattan, New York entfernt. Früher hiess es einfach North Tarrytow, nach der benachbarten Gemeinde Tarrytown. 1996 legte es sich den neuen Namen zu: Sleepy Hollow. Es ist der Titel einer Kurzgeschichte des Schriftstellers Washington Irving. Es ist die berühmteste Kurzgeschichte der amerikanischen Literatur.

Wobei „Kurzgeschichte“ genau genommen nicht der richtige Begriff ist, weil es diese Gattung bei Erscheinen der Legende von Sleepy Hollow, so der ganze Titel des Werks, noch gar nicht gab. Irving nannte seine kurzen Prosaerzählungen „tales“ oder „sketches“. Er publizierte sie 1820 in The Sketch Book of Geoffrey Crayon, Gent., auf Deutsch schlicht Das Skizzenbuch. Eine dieser Skizzen war Sleepy Hollow. Nachträglich erst erkannten das Feuilleton und die Wissenschaft: Das sind Kurzgeschichten, die ersten der Literaturgeschichte.

1820, bei Erscheinen von Sleepy Hollow, waren die Vereinigten Staaten ein sehr junges Land. 1776 hatten sie die Unabhängigkeit erklärt und bis 1783 dafür gekämpft. Auf die politische Anerkennung der amerikanischen Unabhängigkeit durch Grossbritannien folgte das kulturelle Nation Building. Die neue Nation brauchte eine nationale Kultur. Und wo liess sich eine solche finden? In den Büchern, geschrieben von amerikanischen Autoren und Autorinnen (ja, die gab es), mit amerikanischen Geschichten über amerikanische Menschen, die in amerikanischen Orten lebten. Ungeachtet der Tatsache, dass diese Geschichten aus der alten Welt stammten, genau wie die Menschen, die in ihnen vorkamen, die darüber hinaus in Orten lebten, aus denen sie Menschen vertrieben hatten, die gar keine Amerikaner sein wollten.

Eine dieser Geschichten war die Legende von Sleepy Hollow. Der Amerikaner Washington Irving hatte sie zwar einer alten deutschen Rübezahl-Erzählung abgekupfert und geschrieben hatte er sie in England, aber er war «The first ambassador whom the new world of letters sent to the old», wie der englische Schriftsteller William Makepeace Thackeray meinte: «Der erste Botschafter, den die neue Welt der Literatur in die alte sandte.» Irving, in Manhattan geboren, war ein langjähriger Europareisender und dort ein geschätzter Gast der gebildeten Gesellschaft. In den USA war er eine literarische Stütze der sich findenden und festigenden Nation.

Sleepy Hollow ist die Geschichte eines Dorfes, das glaubt oder vorgibt, von einem rätselhaften Reiter ohne Kopf terrorisiert zu werden. Irving schrieb 1820, die Erzählung spielt 1790, der Reiter ist ein hessischer Söldner, der in einem Gefecht des Unabhängigkeitskrieges, also vielleicht zwanzig Jahre vorher, sein Haupt verloren hatte. So kurz reichte die Vergangenheit der USA damals zurück. Die amerikanische Revolution war das in einen Nebel des Unerklärlichen gehüllte mythische Zeitalter, das sagenumwobene Gestalten wie den kopflosen Reiter hervorbringen konnte, auch wenn es kaum ein Menschenleben her war.

Dieses mythische Zeitalter der damaligen USA war der Triumph, der Tumult und das Trauma des vergangenen Krieges. In Irvings Geschichte lässt er eine durchaus nicht unliebenswürdige Gemeinschaft zurück, die so verängstigt ist, dass ihre Mitglieder bereit sind, ihren eigenen Kopf, die Vernunft, aufzugeben. Sonst würden sie nicht an Geister glauben. Oder ist sie so verschlagen, die anderen, die Fremden, glauben zu lassen, es gäbe etwas, wovor man sich so sehr zu Fürchten habe, dass jede Bosheit aus Notwehr gerechtfertigt erscheint?

Washington Irving wurde Anfang April 1873 geboren, als die Nachricht vom Waffenstillstand im Unabhängigkeitskrieg New York erreichte. Seinen Vornamen erhielt er zu Ehren des Anführers der Revolution Georg Washington. Als Kind soll Irving Washington in einem Shop am Broadway begegnet sein. Das letzte Werk seines Lebens war eine fünf bändige Biografie des ersten Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika.
Der 26-jährige Wahington Irving, gemalt von John Wesley Jarvis.
Washington Irving, dessen Leben auf diese Weise fast symbolisch mit der Geburt einer Nation verbunden war, hinterliess seinem Vaterland mit Sleepy Hollow einen Gründungsmythos, der von Kopflosigkeit und Brutalität handelt. Gebührend für ein Land, das seine Existenz der Vertreibung und Vernichtung der ansässigen Bevölkerung verdankte. Und gebührend für ein Land, das sich in wenigen Jahrzehnten in das nächste grosse Schlachten stützen wird, den 1861 beginnenden Bürgerkrieg, einen der blutigsten Kriege des 19. Jahrhunderts überhaupt.

Es ist gespenstisch, wie sich der gespenstische Mythos von Sleepy Hollow in der Geschichte der USA immer wieder bewahrheitet hat. Und es in der Gegenwart erneut tut, in der der amtierende Präsident sowie Teile der Politik und der Gesellschaft gewillt zu sein scheinen, die Errungenschaften der amerikanischen Verfassung mit der Bill of Rights aufs Spiel zu setzen. Washington Irving liegt derweil in Sleepy Hollow begraben. Zum Zeitpunkt seiner Beerdigung hiess es noch nicht so. Doch die Geschichte, die er der Nachwelt hinterliess, gehörte schon zu einer neuen Realität.