«Einer von uns ist es.»

Tyll – Schauspiel, Roman, Legende

Tyll Ulenspiegel, der Gaukler, der Narr, der Joker, ist frei. Frei von Moral, von Regeln, frei von Orten und Beziehungen. Er ist eine Legende.
Inspiriert von unzähligen, uralten Geschichten, die sich um diese Figur ranken, erfindet Daniel Kehlmann den begabten Müllersohn Tyll, der auszog, um der Enge seiner Herkunft zu entkommen. Der 2017 im Rowohlt Verlag erschienene Roman von Kehlmann, einem der wichtigsten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart, wurde sofort zum Bestseller. Nun ist der Stoff zum ersten Mal in der Schweiz zu sehen.
Das Massaker der Unschuldigen, Pieter Bruegel der Ältere (1566)

Gedanken des Künstlerischen Teams

Die Dramaturgin Julie Paucker hat die Mitglieder des Teams im Vorfeld der Proben gebeten, jeweils eine Stelle aus dem Roman zu zitieren, die sie fasziniert, und davon ausgehend zu beschreiben, was sie in ihrer Arbeit an dem Stoff gerade umtreibt.
«Bist du Tyll Ulenspiegel?»
«Einer von uns ist es.»
Wer ist Tyll Eulenspiegel...? Wie ist Tyll Eulenspiegel...? Welche Facetten dieses legendären Narren wollen wir erzählen...? JedeR ist Tyll, niemand ist Tyll. JedeR möchte Tyll sein: unabhängig, anarchisch, unsterblich, ein outlaw – im Guten wie im Schlechten. Ein selbstermächtigter unsympathischer Systemsprenger. Der Rattenfänger von Hameln... Spricht er die Wahrheit (aus)? Wer ist Tyll heute?
Sabine Blickenstorfer, Kostümbildnerin
Der Müller beschreibt, wie vor genau zehntausendsiebenhundertunddrei Jahren, fünf Monaten und neun Tagen der Mahlstrom im Herzen der Welt Feuer gefangen hat. Und jetzt dreht das Ding, das die Welt ist, sich wie eine Spindel und gebärt Sterne in Ewigkeit, denn da die Zeit keinen Anfang hat, hat sie auch kein Ende.
Was ist das für eine irrsinnige Welt, in die Tyll geworfen wird und wir Lesenden oder Zuschauenden gleich mit dazu! Die Welt dreht sich endlos und immer gleich – wie das Mühlrad, neben dem er aufgewachsen ist. Endlos sind auch Elend und Krieg in dieser Welt des Dreissigjährigen Krieges. In Kehlmanns Erzählung vermischen sich Aberglauben, Mystik, Religion, aber auch Poesie und Witz. Damit tun sich wunderbare Bildwelten auf, historische wie heutige, in die wir lustvoll eintauchen können.
Ralf Käselau, Bühnenbildner
NELE: «Mach das weiter», sagt sie ruhig. TYLL: Was? NELE: Das Seil. Etwas können, das keiner kann. Das ist gut.
Das hat zwar mit meinem Spezialgebiet und ­-auftrag, mit der Musik zum Stück, noch nicht viel zu tun, aber im Moment beschäftigt und berührt mich grade Tylls hartnäckiger Versuch, auf dem Seil zu gehen. Wie der Junge eine lebensgefährliche Tracht Prügel des Knechts, der ihn zu wichtigeren Aufgaben abholen soll, in Kauf nimmt. Im Internat hatte ich Stunden, ja Jahre damit verbracht, irgendetwas zu üben, zum Beispiel mit der Aromat-­Dose möglichst viele Salti hintereinander zu schaffen, oder sie punktgenau in die Ménage zu werfen. Und hätte dadurch beinahe den Rauswurf aus dem Internat provoziert, weil ich nichts von dem gelernt hatte, was gefordert wurde.
Jürg Kienberger, Musiker/Performer.
Tyll Ulenspiegel über uns drehte sich, langsam und nachlässig – nicht wie einer, der in Gefahr ist, sondern wie einer, der sich neugierig umsieht. Und wir alle, die wir hochsahen, begriffen mit einem Mal, was Leichtigkeit war. Wir begriffen, wie das Leben sein kann für einen, der wirklich tut, was er will, und nichts glaubt und keinem gehorcht.
Kehlmanns Tyll ist kein einfacher Spassmacher, wie uns die Bilder im kollektiven Gedächtnis zur historischen Figur erzählen. Immer wieder kippt er vom Kindlichen ins Diabolische, vom Gewaltvollen ins Bübische. Dabei ist er omnipräsent: als Legende, als Projektionsfläche, als Beobachter. Mich fasziniert die Ambivalenz der Figur, die sich nicht greifen, nicht einordnen lässt. So selbstverständlich er auf dem Seil balanciert, so sehr bewegt er sich grundsätzlich an der Grenze des gesellschaftlich Zulässigen, ergreift ganz selbstverständlich die Rolle des Aufrührers und spricht Unbequemes aus. Er will sich nirgends einfügen und nutzt seine Talente, um diese gefährliche Sprengkraft in seinem Publikum zu entzünden.
Romy Rexheuser, Kostümbildnerin.
«Und ich sterbe auch nicht morgen und an keinem andren Tag. Ich will nicht! Ich mach’s nicht, hörst du?»
Tyll ist für mich Revolutionär, Todesbegleiter, Showman und Engel. Er ist ein dunkler und heller Provokateur. Er holt aus den Menschen ihre jeweils eigene Wahrheit heraus, die sie in den brüchigen Zeiten, in denen sie leben, oft nicht sehen können oder sehen wollen. Diese Suche nach der eigenen Wahrheit und die Geschichten um Tyll herum beschäftigen mich – grade mit dem Blick auf heute, wo wir auch in brüchigen Zeiten leben und nah an den Abgründen trotzdem das eigene Leben im Weltenrad der grossen gesellschaftlichen Fragen suchen – und manchmal auch finden.
Corinna von Rad, Regisseurin
«Als ich meine Generäle zusammengerufen hab, in den Krieg einzugreifen auf Gedeih und Verderb, glaubst du, ich hab das ewig hin und her gewälzt? Glaubst du, ich hab mich mit meiner Frau beraten? Glaubst du, ich hab erst gebetet? Ich entscheide das jetzt, hab ich gesagt, und dann hab ich es entschieden. Und schon standen die Generäle vor mir und haben Vivat gerufen, und ich hab gesagt: Ich bin der Löwe aus der Mitternacht!»
In Kehlmanns Roman ist der Krieg zur Normalität geworden. Die Menschen leben mit ihm, in ihm und – je nach Alter – kennen sie nichts anderes oder können sich an etwas anderes als Krieg nur noch schwach erinnern. Das gilt leider auch für viele Menschen von heute. Für die meisten von uns hier in der Schweiz ist es umgekehrt: Wir können uns Krieg nicht vorstellen, weil wir ihn nicht selbst erlebt haben. Zu welchen Entscheidungen führen diese gegensätzlichen Erfahrungen? Beginnen Kriege mit Personen, oder resultieren sie aus Gemengelagen: Konstellationen, Machtverhältnissen, Zufällen? Wie kann man sie aufhalten? Was brauchen wir: mehr Entschlossenheit oder mehr Zweifel?
Julie Paucker, Dramaturgin