Über Gott und die Welt

Heidi Maria Glössner gilt als Grande Dame der Schweizer Theaterszene und fühlt sich auch nach ihrem 80. Geburtstag immer noch wohl auf den Bühnen der Schweiz. In St.Gallen ist sie in dieser Spielzeit in Die Ärztin und Gott zu sehen. Im Gespräch mit Dramaturg Sebastian Juen erzählt sie von ihrer Zeit in St.Gallen und von vergangenen Ereignissen, die ihr Leben massgeblich beeinflusst haben.
Sebastian Juen: Heidi Maria Glössner, vielen Dank, dass du dir Zeit genommen hast für dieses Gespräch. Wie kam es denn dazu, dass das St.Galler Publikum dich in dieser Saison in zwei Stücken erleben kann?

Heidi Maria Glössner: Barbara, die ich in Bern vor bald 20 Jahren kennengelernt habe u.a. bei der gemeinsamen Arbeit Die Buddenbrooks, hat mich angefragt für eine Produktion von Gott in Chur. Da sie dort eine Frau Gärtner und keinen, wie im Original vorgesehenen, Herrn Gärtner besetzen wollte. Im Zuge davon kam auch das Angebot, dieselbe Rolle in der St.Galler Version zu spielen. Kurz darauf kam dann das Angebot einer kleinen Rolle in Die Ärztin in der Regie von Barbara selbst, und da ich Barbara als Regisseurin sehr schätze, habe ich dieses Angebot natürlich
gerne angenommen.

Sebastian Juen: In Die Ärztin spielst du Charlie, die Lebenspartnerin der Hauptfigur Ruth Wolff und jetzt direkt im Anschluss die Rolle der Frau Gärtner. Dies ist eine lange Zeit, die du für Proben in St.Gallen verbringst. Hatte dies Einfluss auf deine Zusage?

Heidi Maria Glössner: Beide Rollen zusammen gingen sehr gut, da Charlie eine kleine Rolle ist, und ich dadurch nach Bern pendeln konnte. Ich schätze die Zeit in St.Gallen sehr, aber zwei grosse Rollen hintereinander würden sehr viel Zeit weg von zu Hause bedeuten und das wäre mir nicht möglich.

Sebastian Juen: Die Grösse der Rolle ist demnach nicht wichtig für deine Entscheidung?

Heidi Maria Glössner: Nein, sondern wirklich die Menschen mit denen ich spiele. In St.Gallen habe ich Der Besuch der alten Dame und Arsen und Spitzenhäubchen gespielt, dadurch kannte ich etliche Leute aus dem Ensemble. Ich habe mich hier einfach wohlgefühlt. Ausserdem ist mir St.Gallen sehr vertraut, denn hier bin ich zur Kantonsschule gegangen.

Sebastian Juen: In Gott geht es um eine 78-jährige Frau, die nach dem Tod ihres Mannes ihrem eigenen Leben trotz bester Gesundheit ein Ende setzen möchte. Wie bereitest du dich auf so eine Rolle vor?

Heidi Maria Glössner: Das ist in diesem Fall ziemlich einfach gewesen, ich fühle mich mit Frau Gärtner voll und ganz verbunden. Sie vertritt meine Meinung wirklich ganz klar, also muss ich mir nicht eine fremde Person aneignen, sondern ich kann mich in sie hineinfühlen, weil ich mir vorstellen könnte, genauso zu reagieren, wenn ich in derselben Situation wäre. Diese Frau ist mir sehr vertraut, das bin ich.

Sebastian Juen: Es gibt also sehr viele Parallelen zu deinem Leben?

Heidi Maria Glössner: Ja, weil ich mich mein Leben lang für das Recht auf den eigenen Tod eingesetzt habe, so wie ich auch ein Recht auf mein eigenes Leben habe. Aber dass es so viele Schwierigkeiten bereitet, wird mir erst mit der Thematik dieses Stückes bewusst. Auch wie kompliziert das alles ist und wie viele verschiedene Meinungen es dazu gibt. Es scheint ja in der heutigen Zeit auch eher wieder schwieriger zu werden, über das Thema zu diskutieren. Es wurde komplexer. Aber das ist das Geniale an Gott, jeder, der seine Meinung vertritt auf dieser Bühne, hat auf seine Weise recht. Es ist nicht mehr ganz so einfach Ja oder Nein zu sagen. Auch meine feste Überzeugung, die ich mein Leben lang hatte, unreflektiert, ist plötzlich so ein bisschen durch Überlegungen ins Wanken gebracht worden. Durch dieses Stück und die verschiedenen Positionen, die so einleuchtend vorgetragen werden. Ich bin aber trotzdem noch überzeugt von meiner Position.
Diana Dengler und Heidi Maria Glössner in Die Ärztin.
Sebastian Juen: Dass man sich selbst mit dem Tod beschäftigt, ist ja nicht vermeidbar, sei es durch Angehörige oder eigene Erfahrungen. Wie war das bei dir zu Hause?

Heidi Maria Glössner: Der Tod war nie ein Tabu in meiner Familie und in meinem Leben, Tod hat uns begleitet, weil Menschen gestorben sind, aber es hat nie jemand Angst geäussert oder Schrecken.

Sebastian Juen: Ich habe von deiner Nahtoderfahrung gelesen. Kannst du mir da etwas mehr erzählen?

Heidi Maria Glössner: Das war etwas Wunderschönes! Ich weiss nicht, ob es eine wirkliche Nahtoderfahrung war, aber ich war weg und ich sah dieses Licht, von dem man immer spricht. Es wurde so hell und so schön und ich dachte: "Oh, wie toll, ich darf jetzt in dieses Licht hineingehen." Dann fiel mir meine Scheidung ein, in der ich gerade steckte und mein Sohn, den ich ja nicht allein lassen darf. Ich wurde von einem Auto angefahren und jemand schrie: "She’s dead, she’s dead." Ich soll darauf gesagt haben: "No, I’m not dead, is not yet time for me to go." Das habe ich unter dem Auto liegend anscheinend gesagt, das war mir währenddessen nicht bewusst, aber der Gedanke war da. So ein Unfall ist ja etwas Schreckliches und nichts, was vielen Menschen passiert. Man muss auch sagen, dass dieser Aufprall auf dem Auto nichts Schmerzhaftes oder Brutales war, sondern eher etwas Sanftes trotz der massiven Verletzungen. Mein Bewusstsein war ganz woanders.

Sebastian Juen: Zurück zu unseren Stücken, die du gerade spielst und einstudierst. Gibt es zwischen Charlie und Frau Gärtner Parallelen?

Heidi Maria Glössner: Von den Figuren her nicht, aber vom Mut und der Akzeptanz des Todes schon. Die Gedanken an den Tod und die Konsequenz, ihrem Leben ein Ende bereiten zu wollen, ist bei beiden gleich, auch wenn die Gründe ganz unterschiedlich sind.

Sebastian Juen: Siehst du Ursachen bei der Figur von Frau Gärtner, weshalb sie ihren Fall in einem Gremium diskutieren möchte und nicht den bereits möglichen Weg, über eine Institution in den Freitod zu gehen, wählt?

Heidi Maria Glössner: Sie möchte es öffentlich machen und sie sagt ja auch: "Ich will, dass man Menschen wie mich nicht verurteilt."

Sebastian Juen: Man erfährt wenig von der Vorgeschichte von Frau Gärtner. Hast du im Probenprozess mehr über ihre Motivation für dich entschlüsseln können?

Heidi Maria Glössner: Ich kann ihre Motivation vollkommen verstehen, ich habe ja auch bereits die amerikanische Schriftstellerin Joan Didion gespielt und da ging es auch darum, dass sie nicht von ihrem Mann Abschied nehmen kann. Ihr Hirn weiss, dass der Mann tot ist, aber gleichzeitig kann sie beispielsweise seine Schuhe nicht weggeben. Dieses Leben zwischen den Welten geht vielen Menschen so. Und Frau Gärtner sieht es meiner Meinung nach genauso. Sie sagt, dass sie nichts mehr freuen kann, kein Buch, keine Reise, nichts, seit ihr geliebter Mensch nicht mehr Teil ihres Lebens ist.

Sebastian Juen: Hat sich deine eigene Sicht auf das Leben verändert durch diese Rolle?

Heidi Maria Glössner: Ich habe in letzter Zeit so viele Interviews gegeben zu meinem 80. Geburtstag, und dabei reflektiert. Ich habe ein so spannendes und vielfältiges Leben gelebt, dass ich denke; es kann gar nicht mehr so viel Aufregendes kommen, ausser natürlich spannende Theaterstücke. Ich fühle mich schon privilegiert. Ich darf mich weiterhin mit Figuren auf der Bühne auseinandersetzen. Ich bin gesund und hatte keine grossen Krankheiten, ausser dass mich mal ein Auto umgefahren hat (lacht). Aber im Vergleich zu anderen Problemen sind das Kinkerlitzchen. Ich freue mich einfach, dass ich weiterhin auf der Bühne stehen darf. So mache ich mir selbst eine Freude und mit so tollen Stücken auch den Zusehenden.

Sebastian Juen: Heidi, herzlichen Dank für dieses Gespräch, wir freuen uns, dich in St.Gallen zu haben.